Stellen wir uns einmal vor, es gelänge die Qual, das Leid oder den Schmerz abzuschaffen, sagen wir mal durch eine Genmanipulation. Das wäre doch genial – oder nicht? Der Erfinder bekäme sofort den Nobelpreis. Er hätte die Menschheit von der Geisel des Leids befreit. Schon heute versprechen leidende Menschen demjenigen ein Himmelreich, der ihnen ihre Schmerzen nimmt. Schmerzkliniken schießen wie Pilze aus dem Boden. Manch einer fliegt dafür um die halbe Welt nur in der Hoffnung, irgendein Schamane, Guru oder Heiliger könnte ihm seine Schmerzen nehmen.

Wann entwickle ich mich?

Solange es mir unten im Tal gefällt, bekommen mich keine 10 Pferde dazu, auf einen Berg zu klettern. Wozu? Das ist nur mühevoll. Erst wenn ich im Tal Probleme bekomme und denke, ich würde gerne mal meinen Horizont erweitern, dann mache ich mich vielleicht auf den Weg. Ganz sicher suche ich eine Veränderung, wenn mein jetziger Zustand weh tut. Kein Politiker setzt sich für eine Änderung, sprich eine Verbesserung der Verhältnisse ein, wenn diese Zustände nicht schon zu Leid, Schmerz, meistens sogar zu Toten und Elend geführt hätten. Irgendeine Qual muss auftreten, damit etwas verbessert wird, sprich, wir uns entwickeln. Entwickeln heißt, wir wollen glücklicher werden, wir wollen es ein Stückchen weiter hinauf auf den Gipfel des Glücks schaffen. Das ist Entwicklung, das ist der Sinn unseres Daseins. Einen anderen gemeinsamen Nenner finden wir nicht für unser Menschsein. Es ist also die Qual, das Leid, der Schmerz, der uns antreibt unserem Dasein einen Sinn zu geben.

Eine Metapher:

Solange eine Genmanipulation mir den Schmerz nicht nehmen kann, würde ich morgens prophylaktisch zwei Schmerztabletten einwerfen und so leidfrei durch den Tag kommen. Bekäme ich Besuch, dem ich etwas zu Essen anbiete, würde ich ihm eine Scheibe Brot herunter schneiden und mich dabei mit ihm weiter unterhalten. Aus Unaufmerksamkeit würde ich mich schneiden, die Scheibe Brot würde rot getränkt werden, ich aber hätte keinen Schmerz, allenfalls einen etwas kürzeren Finger. Als Schmerzunempfindlicher würde mich das nicht weiter beunruhigen und ich könnte eine weitere Scheibe abschneiden. Ich könnte mich ein zweites Mal verstümmeln, aber auch das wäre nicht weiter schlimm, denn ich bin kein Pianist und wäre auf die vollständige Länge meiner Finger nicht angewiesen und weh tut es sowieso nicht, denn ich habe ja mein Schmerzempfinden abgeschafft.

Die Botschaft des Schmerzes:

Welch ein Wahnsinn, denkt man. Sollen wir nicht dankbar dafür sein, dass wir Schmerz, Leid und Qual empfinden? Weshalb schmerzt denn ein Schmerz? Wir sind so furchtbar sensibel, dass wir uns mit dem Brotmesser auch nur anzuritzen brauchen und schon stoppen wir die Handlung. Wir wissen, dass es uns unserem Glück nicht näher bringt, wenn wir uns den Finger abschneiden. Der Schmerz, der sich augenblicklich meldet, hat eine Botschaft. Er will mir sagen, „Ändere dein Verhalten!“ In diesem Fall ist die Botschaft leicht zu verstehen: „Brotmesser etwas nach rechts“. Danke lieber Schmerz, sage ich, du hast mir mein Verhalten verbessert. Hätte ich dich nicht verspürt, ich hätte mich verstümmelt und das würde mich kein bisschen glücklicher machen – ganz im Gegenteil, auch wenn mich die verkürzten Finger nicht weiter stören würden, eine solche Handlung zeugt nicht gerade von Bewusstsein.

Jeder Schmerz hat einen positiven Sinn:

In diesem Schadensfall versteht man relativ schnell, welche Aufgabe Schmerz hat und wie man aus ihm lernt. In einem Fall von Krebs, ist das schon nicht mehr so leicht, aber vom Prinzip her nicht anders. Auch das Leiden und die Schmerzen, die mir der Krebs zuführt, sollen mich lehren, mein Verhalten zu ändern. Das ist der ganze Sinn von Leid und Krankheit. Sie wollen mich lehren weiter, höher auf den Berg des Glücks zu steigen und damit den Sinn meines Lebens zu erfüllen. Leid ist kein irrationales Übel oder ein Fluch, der auf uns lastet, sondern ein willkommenes und oft notwendiges Geschenk für unsere Entwicklung. Die Krankheit erlaubt mir oft nicht länger mein bisheriges Verhalten auszuüben. Die Krankheit, das Leid will mich davor bewahren, weiter in die falsche Richtung zu streben und das ist positiv – sehr positiv.